Das scholar-led.network-Manifest

Wissenschaftliche Publikationen im Open Access, von der wissenschaftlichen Community betrieben, gefördert, geleitet

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Wir sind das scholar-led.network und setzen uns gemeinsam und kollaborativ für eine von Großverlagen unabhängige, nicht profitorientierte Publikationskultur jenseits von APCs und BPCs ein. Das scholar-led.network-Manifest bringt unsere zentrale Kritik am gegenwärtigen wissenschaftlichen Publikationssystem im deutschsprachigen Raum auf den Punkt und benennt Handlungsfelder für faires, planvolles und vielfältiges Publizieren.

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Scholar-led-Akteur*innen

Wir vertreten die im deutschsprachigen Raum durch Wissenschaftler*innen in kollaborativer Eigenregie verlegten Zeitschriften, Buchpublikationen und Herausgeber*innen-Kollektive diverser Publikationsformate gebührenfreier, von Großverlagen unabhängiger Publikationsprojekte (Scholar-led).

Unser Selbstverständnis ist geprägt durch die folgenden Prämissen:

  • Wir operieren nicht profitorientiert und fokussieren auf eine nicht-kommerzielle Ausrichtung unserer Aktivitäten im Sinne von FOAA
  • Unser Handeln ist community-basiert; Wir stellen Zusammenarbeit und Kollaboration über im Publikationswesen vorherrschendes Profit- und Wettbewerbsdenken.
  • Wir kommen überwiegend aus den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen und setzen uns aus dieser Perspektive für Vielfalt im wissenschaftlichen Publikationssystem ein.
  • Uns ist Vielfalt im wissenschaftlichen Publikationssystem wichtig.
  • Wir vertreten die Werte und Prinzipien von Offenheit als gemeinnütziges, inklusives, solidarisches, nachhaltiges und kollaboratives Handeln.

Wir wollen die Interessen von Scholar-led-Initiativen vertreten. Unser Anliegen ist es, die Sichtbarkeit der vielfältigen unabhängigen Publikationsinitiativen zu erhöhen – ihre Stimmen möchten wir hörbar machen!

Wir machen Open Access: Wir setzen die Open-Access-Transformation in unseren Feldern in die Tat um, organisieren Publikationsprozesse und Qualitätssicherungsverfahren und sind Multiplikator*innen für die Idee des freien Zugangs in unseren Fachcommunities.

Eine neue Zeitschriftenkrise

Open Access wird immer wichtiger. Nationale wie internationale Forschungsförderorganisationen fordern und fördern Open-Access-Publikationen. Auch Großverlage haben das Potenzial längst erkannt: Für sie ist OA zu einem neuen Element ihres Geschäftsmodells geworden. Hohe Kosten für Zeitschriftenabonnements werden ersetzt durch hohe Publikationsgebühren. Dies schafft neue Ungleichheiten und Exklusionen und stärkt die monopolartige Stellung einer Handvoll von Großverlagen. Scholar-led-Publikationsformate, die auf Publikationsgebühren verzichten, können einen wichtigen Beitrag leisten, den Übergang hin zu Open Access gerechter und diverser zu gestalten.

Allerdings ist die Situation von Scholar-led-Projekten, im Buch- wie Zeitschriftensegment, geprägt von (1) unzureichender Finanzierung, (2) fehlender strategischer Ausrichtung und (3) fach- und institutionsübergreifenden Verantwortungsdefiziten.

Scholar-led-Zeitschriften und -Bücher sind trotz ihrer wichtigen Stellung im Open-Access-Ökosystem strukturell benachteiligt und unzureichend finanziert. Existierende Förderoptionen (Drittmittel) sind ausschließlich punktuell und projektgebunden. Langfristige kooperative und konsortiale Modelle fokussieren oft auf eine Open-Access-Transformation, die Scholar-led Diamond OA (nicht durch autor*innenbasierte Publikationsgebühren finanzierte Modelle) ausschließt. Sehr deutlich wird das am Beispiel des Projekts DEAL, das Großverlage effektiv bevorzugt und ihre Vormachtstellung innerhalb des nationalen OA-Systems ausbaut.

Trotz ambitionierter regionaler, nationaler und organisationaler Open-Access-Quotierungen fehlt es bislang an einer übergreifenden strategischen Ausrichtung bzw. einem Rahmenprogramm für den nachhaltigen Betrieb von Scholar-led-Diamond-OA, die alle Aspekte der Dissemination von Forschung abdeckt. Dies führt dazu, dass Einzellösungen gesucht werden, die dezentral, kostenintensiv, projektabhängig und kurzlebig sind. Insgesamt ist eine fehlende Vernetzung und unproduktive Fragmentierung der Publikationslandschaft zu beklagen.

Wer tritt für die Belange von unabhängigem Open Access ein? Bibliotheken, Fachgesellschaften und Forschungseinrichtungen können oder wollen kaum für die Interessen einer breiten Scholar-led-Diamond-OA-Landschaft Verantwortung übernehmen. Interdisziplinarität von Publikationsprojekten und Innovativität von Publikationsformaten komplizieren dieses Verantwortungsbewusstsein zusätzlich. Darüber hinaus sind Fragen der Governance von Publikationsprojekten oft nicht eindeutig geklärt, etwa die Beziehungen zwischen Journals, Forschungs- und Infrastruktureinrichtungen. Im Resultat werden diese Publikationsprojekte nur antragsbezogen oder kurzfristig gefördert, was deren Unabhängigkeit und damit auch Qualität mindert.

Für faires, planvolles und vielfältiges Publizieren

Scholar-led-OA-Projekte sind zentraler Bestandteil eines globalen, diversen und von wissenschaftlichen Communities verantworteten, durch Kollaboration geprägten Publikationsökosystems. Um dieses Ökosystem im deutschsprachigen Raum zu stärken, müssen sich Wissenschaftler*innen, Forschungseinrichtungen, Bibliotheken, Forschungsförderung, Fachgesellschaften und andere Teile der wissenschaftlichen Community gemeinsam engagieren. Das bedeutet auch, die verfügbaren finanziellen Mittel zielgerichtet so zu investieren, dass dieser Bereich nachhaltig gestärkt wird.

Wir sehen dabei insbesondere Handlungsbedarf in folgenden Feldern:

1. Vernetzung, Kollaboration und strategischer Rahmen

Wir wollen gemeinsam Lösungen finden und Strukturen aufbauen, um die Vielzahl der von der wissenschaftlichen Community getragenen digitalen und unabhängigen Publikationsformate zu realisieren und nachhaltig zu etablieren. Dafür brauchen wir offene sozio-technische Infrastrukturen(Star, 1996). Dazu gehören sowohl Aufbau und Stärkung kollektiv nutzbarer Open-Source-Publikationssysteme wie Open Journal Systems und die Sicherung und Stärkung der Beschäftigungssituation der technisch Verantwortlichen.

Wir setzen uns dafür ein, dass nicht nur in den initialen, zumeist durch Projektstrukturen nur kurzfristig finanzierten Aufbau von Hosting-Angeboten und innovativen Publikationstools investiert wird. Auch ihr dauerhafter Betrieb durch öffentliche Mittel soll langfristig und nachhaltig gefördert und damit sichergestellt werden. Dabei gilt es auch, sich damit auseinanderzusetzen, wie die förderpolitischen Zuständigkeiten sinnvoll organisiert werden und wie die bestehenden Initiativen besser miteinander vernetzt werden können.

Mit unseren Aktionen und Forderungen möchten wir eine Debatte über die gegenwärtige und zukünftige Rolle von Scholar-led Open Access im deutschsprachigen Raum anregen, in der wir uns mit den Stakeholder*innen darüber verständigen, wie die gemeinsame Verantwortung für diesen Bereich zukünftig organisiert werden soll.

2. Nachhaltige Finanzierungsstruktur

Es besteht Bedarf an nachhaltigen Finanzierungsstrukturen für OA Diamond-Modelle. Wir stellen hierzu unsere Expertise bereit und plädieren für eine Distanzierung von Finanzierungsmodellen, die primär auf Autor*innen als Finanzierungsquelle fokussieren (Abkehr von APC - und BPC-basierten Modellen). Stattdessen streben wir eine Einwerbung und Verteilung vorhandener Mittel zur Finanzierung von OA-Publikationen an, um Wissenschaftler*innen und ihre Publikationsprojekte direkt zu unterstützen. Denkbar wären not-for-profit Ansätze wie das Bibliothekskonsortial-Modell der Open Library of Humanities (OLH, 2019) oder die im COPIM-Projekt in Entwicklung stehenden Modelle (Gerakopoulou, Penier & Deville, 2020; Eve, 2021).

Diesbezüglich unterstützen wir ausdrücklich die Empfehlungen der Diamond-OA-Studie, die für Journals dazu aufruft:

„Collaborate on a funding strategy for OA diamond, Consistently finance the operations of OA diamond journals, Invest in the future of OA diamond.“

3. Förderung von Bibliodiversität

Im Einklang mit und aufbauend auf den Jussieu-Appell setzen wir uns für die Förderung von Bibliodiversität in der Wissenschaft ein.

Qualitätssicherung zeitgemäß gestalten: Wissenschaftliche Publikationen müssen Standards guter wissenschaftlicher Arbeit erfüllen. Gerade in digitalen Publikationssystemen, die von wissenschaftlichen Communities selbst verantwortet werden, stoßen klassische Formen der Forschungsevaluation wie Metriken (z.B. impact factor) und ein sehr enges Verständnis von peer review oft an ihre Grenzen, vor allem bei innovativen Formaten. Die DORA (Declaration on Research Assessment) stellt bereits eine Antwort auf diese Problematik dar. Es gilt, weitere Parameter zu entwickeln, die hohe wissenschaftliche Qualität gewährleisten und gleichzeitig neuen Publikationsmöglichkeiten und -formaten Rechnung tragen.

Diversität: Das Publikationssystem zeichnet sich noch immer durch sprachliche und sozio-ökonomische Homogenität aus. Um die Diversität von Wissen zu fördern gilt es, den Blick auf Publikationen in anderen Sprachen zu weiten und Mehr- und Vielsprachigkeit zu unterstützen. Zudem wollen wir Vielfalt auch genereller sowohl in der Wissensproduktion als auch der -rezeption fördern, was neue Publikationsformen und -formate (bspw. jenseits des klassischen PDF-Outputs) mit einschließen kann.

Zugänglichkeit: Open Access darf nicht nur Zugänglichkeit im Sinne freier Verfügbarkeit bedeuten. Zugänglichkeit muss auch Barrierefreiheit/-armut im Kontext wissenschaftlicher Publikationen fördern, etwa indem offene und maschinenlesbare Dateiformate bereitgestellt werden. Ebenso gehört die Auffindbarkeit durch Integration moderner, offener Metadaten-Standards in den Publikationsprozess sowie die Ermöglichung der offenen Weiternutzung von Forschungspublikationen (reuse, remix) dazu.

Forschung als öffentliches Gut: Wir unterstützen klar die Forderung, öffentlich geförderte Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit offen und frei zugänglich zu machen. Mit Blick auf Tools und Plattformen gilt es, die Weiterentwicklung von Open-Source-Software zu unterstützen, um den Ansatz "Öffentliches Geld - öffentliches Gut" (siehe bspw. Wikimedia) auch im öffentlich finanzierten Forschungs- und Publikationsbetrieb Realität werden zu lassen.

Unser Anspruch

Wir haben Expertise und wir haben Ideen! Gemeinsam mit der wissenschaftlichen Community, Wissenschaftspolitik, Förderorganisationen, Hochschulleitungen und Bibliotheken wollen wir uns für Verbesserung des Umfelds für Scholar-led-Projekte im deutschsprachigen Raum einsetzen.

Dazu möchten wir mit den Förderern und Hochschulleitungen einen Dialog führen, uns mit der Scholar-led-Community vernetzen und mit Bibliotheken Lösungen für Herausforderungen in Bezug auf technische Umsetzung und Open-Access-Infrastruktur, Qualitätsstandards, Lektorat und Layout entwickeln.

Autor*innen

  • Tina Asmussen, Ruhr-Universität Bochum / intercomverlag, ORCiD
  • Marie-Christine Boucher, On_Culture / Programming Historian en français, ORCiD
  • Evin Dalkilic, Verfassungsblog
  • Natascha Drubek-Meyer, Apparatus, ORCiD
  • Juliane Finger, Open-Access-Referentin an der ZBW - Leibniz Informationszentrum Wirtschaft, ORCiD
  • Kathrin Ganz, Open Gender Journal, ORCiD
  • Julia Heinig, Entangled Religions
  • Jasmin Heuer, Open-Access-Publikationsfonds der Goethe-Universität Frankfurt
  • Andreas Kirchner, open-access.network / meson press, ORCiD
  • Oliver Klaassen, On_Culture / Gender[ed] Thoughts, ORCiD
  • Raffaela Kunz, MPIL / Völkerrechtsblog
  • Jonas Mirbeth, Arbeitskreis Erstveröffentlichung, ORCiD
  • Maike Neufend, Open-Access-Büro Berlin, ORCid
  • Markus Rauchecker, CROLAR
  • Tobias Steiner, Community-led Open Publication Infrastructures for Monographs (COPIM), ORCiD
  • Agnieszka Wenninger
  • Marcel Wrzesinski, Open Gender Journal / Scholar-led Plus, ORCiD

Referenzen

Barnes, L. (2018) Green, Gold, Diamond, Black – what does it all mean? https://doi.org/10.11647/OBP.0173.0089

Becerril, A., Bosman, J., Bjørnshauge, L., Frantsvåg, J. E., Kramer, B., Langlais, P.-C., Mounier, P., Proudman, V., Redhead, C., & Torny, D. (2021). OA Diamond Journals Study. Part 2: Recommendations. Zenodo. http://doi.org/10.5281/zenodo.4562790

Bosman, J., Frantsvåg, J. E., Kramer, B., Langlais, P.-C., & Proudman, V. (2021). OA Diamond Journals Study. Part 1: Findings. Zenodo. http://doi.org/10.5281/zenodo.4558704

San Francisco Declaration of Research Assessment (2012). Abgerufen am 28.05.2021, von https://sfdora.org/read/

Eve, M. P. (2021). 'Opening the Future' - a New Funding Model for Open-Access Monographs: Introducing an Innovative Approach to Publishing OA Books through Library Membership Funding (Version 1.0). Presented at the UKSG Annual Conference 2021. http://doi.org/10.5281/zenodo.4683631

Fair Open Access Alliance (o.J.). The Fair Open Access Principles. Abgerufen am 28.05.2021, von https://www.fairopenaccess.org/the-fair-open-access-principles/

Gerakopoulou, E., Penier, I., & Deville, J. (2021). The promise of collaboration: collective funding models and the integration of Open Access books into libraries. Zenodo http://doi.org/10.5281/zenodo.4756894

Jussieu-Appell (2017). Jussieu-Appell für offene Wissenschaft und Bibliodiversität. Abgerufen am 28.05.2021, von https://jussieucall.org/jussieu-appell/

Open Library of Humanities (2019). The OLH Open Consortial Offer. Abgerufen am 28.05.2021, von https://www.openlibhums.org/site/consortium/

Star, S. L., & Ruhleder, K. (1996). Steps Toward an Ecology of Infrastructure: Design and Access for Large Information Spaces. Information Systems Research 7 (1): 111–34. https://doi.org/10.1287/isre.7.1.111.

Wikimedia (o.J.). Öffentliches Geld, Öffentliches Gut. Abgerufen am 28.05.2021, von https://www.wikimedia.de/oeffentliches-gut/

Zur Fokusgruppe

Die Fokusgruppe scholar-led.network ist ein Ort für in Eigenregie verlegte Zeitschriften und Herausgeber*innen-Kollektive gebührenfreier, von Großverlagen unabhängiger Publikationsprojekte. Angeregt durch Initiativen in anderen Ländern (Radical Open Access Collective, ScholarLed etc.), soll die Fokusgruppe gemeinsame Interessen für die im deutschsprachigen Raum operierenden, von Wissenschaftler*innen geführten Publikationsprojekte definieren sowie mögliche Handlungsfelder und Formen der Interessenvertretung ausloten.

Die Fokusgruppe soll neben der Netzwerkarbeit weitere Aufgaben übernehmen. Denkbar wären z. B. das Verfassen einer Deklaration zur Gründung eines Zusammenschlusses von Zeitschriften zu einem Kollektiv, die Initiierung gemeinsamer Förderanträge oder die Aufbereitung interner Arbeitsstrukturen auf Basis kooperativer Modelle.

Die Idee der Fokusgruppe scholar-led.network baut auf der Vernetzungsarbeit im Kontext (drittmittelgeförderter) OA-Forschungsprojekte (InnOAccess, Open Gender Platform) auf und schließt an Diskussionen an, die bei einschlägigen Community-Treffen (Open-Access-Tage) und im Kontext der jeweiligen Institutionen geführt wurden.

Diese Veröffentlichung ist im Rahmen einer Fokusgruppe des Projekts open-access.network entstanden. Für den Inhalt sind die Autorinnen verantwortlich.


Kontakt zur Fokusgruppe*

Katrin Falkenstein-Feldhoff (Universität Duisburg-Essen, katrin.falkenstein-feldhoff@uni-due.de

Marcel Wrzesinski (Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft), marcel.wrzesinski@hiig.de